Miriam Grimm und Johanna Deffner haben sich im November 2022 gegenseitig Fragen zu ferneren Zukunftsprognosen der digitalen Szenografie und kurzfristigeren über die Zukunft der Labore für Digitale Szenografie gestellt.
November 2022, Miriam Grimm mit Johanna Deffner
MIRIAMs Time warp // Johanna Deffner befragt Miriam Grimm
Liebe Miriam, wie denkst du, arbeiten wir als Bühnen-und Kostümbildner*innen in 30 Jahren? Immerhin sind wir dann noch nicht pensioniert (ist die Frage, ob es überhaupt irgendwann dazu kommt…)?
Danke für diese Time-Warp/Zeitraffer Frage! Dank der Dataismus-Bewegung (Algorithmus statt Gefühl) stecken wir 2052 im Zeitalter des Techno-Humanismus (aus Yuval N. Harari „Homo Deus“). In künstlerischen Großzentren wie z.B. The Shed werden „Leuchtturmprojekte“ realisiert. Da wir nicht genügend Rente bekommen, werden wir immer arbeiten müssen. Oder beziehen eine Art Bürgergeld.
Wie viel Prozent von uns werden dann noch Stifte mit Farbminen nutzen oder Aquarellfarbe? Mit welchen Werkzeugen werden wir arbeiten?
Die Frage ist ja ─ wer arbeitet überhaupt noch, bzw. „darf“ arbeiten? Dystopisch betrachtet kratzen wir Lehm aus ausgetrockneten Brachen, benetzen ihn mit Spucke und setzen ihn als „Tusche“ ein. Oder kratzen mit Stöckern Bilder in rissige Böden (ein paar Grad wärmer ist es ja dann auch). Wir schwelgen in seliger Erinnerung an Polychromos-Farbstiften von Faber-Castell auf FABRIANO® Ingres-Büttenpapier. Deren Produktion wurde um 2032 eingestellt (unbezahlte Werbung). Die A-Liga darf mit Kremer-Pigmenten aus Aichstetten arbeiten und hat Abo-Premium-Zugänge zu ALLEN MÖGLICHEN Software-Anbietern.
Wie werden Anproben ablaufen?
Du redest von 2052, gell? Wir sind jahrelang Meta-Creator gewesen, irgendwann wird Meta verkauft. Wir transferieren irgendwie „rettbare“ Kreationen in Shopsysteme von neuen Anbietern und bestücken Avatare mit unseren Designs. Richtig glücklich sind wir dabei nicht. Aber wir sind stolz und dankbar, einen Weg gefunden zu haben, weiter entwerfen zu dürfen.
Ein paar Köpfe der A-Liga dürfen in Endlosschleife Opern aus dem 19.Jahrhundert „neu interpretieren“. Dazu komponieren Softwareprogramme wie „EMI“ und „Annie“ von David Cope (Professor für Musikwissenschaft an der University of California in Santa Cruz) Opern „im Stile von X “: das 19. Jahrhundert Opern-Repertoire pflanzt sich also fortwährend fort.
Reale Anproben finden immer seltener statt. Darsteller treten nackt auf, Flüssigklamotten werden on stage auf ihre Körper gesprüht. Und sie werden von Hologram-Projektionen eingekleidet.
Welche Bühnenräume werden entstehen?
2052? Eigentlich gar keine. Wir tragen Brillen, darauf haben billige Arbeitskräfte Sachen programmiert. Die ersten von uns haben sich Chips einpflanzen lassen wollen oder müssen. Dort läuft die Show ab. Der Rest rettet sich ins Analoge. Kleine Splittertruppen im Untergrund unter prekären Bedingungen.
Wie verändern sich unsere Sehgewohnheiten?
Immersive- sich ineinander verschneidende Welten sind uns vertraut. Vielleicht tragen wir Chips unter der Haut, die unser Sehen beeinflussen. Vielleicht gibt es die „Show-Pille“- eine Art LSD-Trip aus körpereigenen Botenstoffen plus programmierten Inhalten.
Werden wir noch ins Theater gehen? Und wenn ja, wohin?
Ja wohin? Gute Frage, ha ha! Keine Ahnung.
Was wird ein Theaterbesuch kosten? Wer kann ihn sich leisten? Wird es noch Kulturförderung geben?
Folgt man einer bissigen Logik, werden die Massen mit „Kunst für Massen“ ruhiggestellt und Eliten exklusiv bedient. Mit Blick auf die VR China sieht man, wohin die Reise geht. Oder auch Netflix + Co- die Lockdown-Tröster.
Wird Theater partizipativ sein?
Nein, wie in der Frage zuvor zusammengesponnen.
Wird es Schwellen geben, die überwunden werden müssen, um zur Aufführung zu kommen?
Hier können wir uns nur selbst Antworten geben. Was du mit „Schwelle“ bezeichnest, greife ich mal als „Widerstand“ oder „Bedürfnis“ auf. Die Schwellen, über die wir demnach gehen dürfen, sind sicherlich ehrliche Fragen, die wir uns selber stellen: z.B. wo MÖCHTE ich, dass die Reise hingeht? Möchte ich, dass mein Kind Theater live erlebt? Möchte ich Beträge für Berufsverbände und Kultur zahlen? Möchte ich mich dafür einsetzen, dass es weiterhin um Gefühle gehen darf, statt um Algorithmen und Schneller/Höher/Weiter?
Und die Folgefragen hierzu lauten: welche Hebel bediene ich dafür? Wo investiere ich mein Geld, meine Kraft, meine Lebenszeit? Mir persönlich ist es wichtig, dass es unseren Beruf auch 2052 und darüber hinaus noch gibt. Aber das wird er nicht „automatisch“. Dazu bedarf es dieser Debatte. Sich gegenseitig Fragen zu stellen zum Beispiel (an dieser Stelle: vielen Dank dafür, Johanna)!
Mir persönlich geht es darum, diesen staubigen, sperrigen und merkwürdigen Theaterraum zu schützen. Denn Kunst kommt nicht von Kontrolle und Algorithmus. Mehr von Flow und Loslassen. Digitalität ist erst einmal nicht wichtig, die erste Frage lautet: welche Geschichten wollen wir erzählen? Wie wollen wir berühren? Und mit welchen Mitteln?
Welchen künstlerischen Mehrwert hast du bereits auf dem Feld der digitalen Szenografie entdeckt? Welche Formate oder Künstler*innen wirst du in 15 Jahren schätzen?
Was mich berührt, begeistert mich. Zum Glück haben wir keine Kristallkugel und können nicht in die Zukunft gucken.
Werden wir auch in 15 Jahren noch von unseren Honoraren leben können, auch wenn wir nicht zu den 10 Prozent der gut bezahlten Kolleg*innen gehören?
Ich kenne NIEMANDEN, der sein Arbeitsleben lang von den freien Honoraren für Ausstattung leben konnte oder kann! Es ist IMMER eine Kombi aus Ehe, Familie, Arbeitsamt, Nebenjob (vorübergehende Anstellung z.B.).
Ich würde viel darum geben, dir diese Antwort mit JA beantworten zu können. Aber dafür müssten wir mindestens ein Drittel mehr Nettohonorare bekommen. So wie in Schweden und Norwegen, wo ich gearbeitet habe. Und wo ich 2007 schon mehr bekommen habe als in Deutschland. An dem Thema „mehr Honorar“ müssen unsere Verbände dranbleiben. Dafür bezahle ich sie, wenn ich ehrlich bin.
Wann trinken wir mal wieder ein analoges flüssiges Bier zusammen?
Bald bitte, liebe Johanna!
Dazu muss ich anmerken: wir haben uns vor drei Jahren in einem Zoom-Call der AG Digitaler Raum kennengelernt. Im Chat haben wir uns gegenseitig bestätigt, wie gerne wir gerade ein Bier trinken würden. Daraufhin hast du mir mit Bleier ein Bier gezeichnet und ein Foto davon auf mein Handy geschickt. Ich kriege das jetzt nicht korrekt auseinander dividiert ─ digital… analog… egal. Einfach Bier. Irgendwie. Bitte gerne wieder in echt. Ganz bald!
JOHANNAs Time warp // Miriam Grimm befragt Johanna Deffner
Liebe Johanna, wo siehst du Theater in 30 Jahren?
In 30 Jahren, das ist: 2052. Da werden wir beide als etwa 80-Jährige gut mit VR Brillen und den Nachfolge-Devices umgehen können ─ sicher können wir uns jederzeit archivarisch unsere Lieblingsinszenierungen ansehen. Auch gemeinsam. Viele Häuser sind in Shoppingmalls, Stadtteilzentren, Begegnungsstätten umgebaut worden. Die Inszenierungen finden meist in den Event-Stages nebenan statt. Sie erfüllen alle technischen Bedarfe: z.B. flexible Bühnen, ausgestattet mit direktem Gastspiel-Stream auf Geschwisterbühnen identischer Bauweise. Das ist easy. Ist superpraktisch, dass alle die gleiche Technik nutzen.
Jetzt ist sie nicht mehr teuer, dafür nutzen wir Meta, was alles bereitstellt, was die Theater dafür brauchen.
Was braucht es dafür?
Zur Realisierung braucht es Fachleute, die technisch zentral in Europa dafür geschult werden.
Seitens der Künstler*innen braucht es sehr viel weniger Präsenz ─ denn alle haben ja zuhause das App-Bundle, was sie auch bereits als Studierenden-Version bekommen haben. Alle haben Zugriff auf riesige Bibliotheken.
An manchen Häusern arbeiten die Leute gar nicht mehr mit eigenen Entwürfen, sondern mit Bausteinen von für sie zugänglichen Grundentwürfen. Auch die Zuschauenden können sich genau das, auf das sie gerade Lust haben, ansehen. Etwa den zweiten Akt einer Oper von 2030.
Zurück in die Gegenwart: Sind wir Soloselbstständigen gut vernetzt?
Wir werden besser, bleiben aber immer noch in den Arbeitsbereichen: Bühne, Kostüm, Medienkunst… Es kann sich noch mehr verbinden, noch interdisziplinärer werden. Allerdings ist das auch mit Energie und Zeit verbunden.
Was bedeutet die Arbeit der Berufsverbände für dich persönlich? Wie profitierst du z.B. vom Szenografie-Bund?
Die Arbeit im Berufsverband ist mir sehr wertvoll, in der Pandemie war sie für manche existenziell.- ich profitiere im Moment, indem ich etwas machen kann („Labore für digitale Szenografie“), was ich als sehr inspirierend und impulsgebend erachte- für mich und auch für die daran teilnehmenden Kolleg*innen.
Du hattest die künstlerische Leitung des Projektes „Labore für Digitale Szenografie“ vom Szenografie-Bund ─ was nimmst du aus der Zeit mit?
Aktuell befinden wir uns im Endspurt Richtung FINALE, der Abschlussveranstaltung. Für das Konzept habe ich mit Prof. Dr. Birgit Wiens zusammengearbeitet, die unser gesamtes Projekt seit Beginn theaterwissenschaftlich begleitet. Birgit Wiens, mit ihrer langjährigen wissenschaftlichen Forschungstätigkeit zu digitaler Szenografie, gestaltete die Themen der Gesprächsgruppen und die Auswahl unserer Vortragenden maßgeblich. Auf diesen Tag an der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund freue ich mich sehr und bin gespannt auf die geplanten Beiträge!
Rückblickend auf das bisherige Projekt habe ich viel dazugelernt: Über die Arbeit im Team im Allgemeinen und in unserem speziellen Fall: welche Strukturen und Abläufe zu uns passen.
Bei den konkreten Laborprozessen nehme ich die Erkenntnis mit, dass die Laborant*innen erst ins künstlerische Ausprobieren kommen können, wenn sie die technischen Grundsätze verstanden haben. So ist oft erst im zweiten Teil des Labors nach dem Üben mit der anzueignenden Technik etwas Kreatives entstanden. Gut Ding braucht Weile. Eine sichtbare Nutzung für eigene Projekte ist erst einige Zeit nach den Laboren zu erwarten, wenn sich der Input gesetzt hat. Dann wird sich die Wirkung der Labore auf die persönlichen Werkzeugkästen der Teilnehmenden entfalten.
Was passiert ab 2023 mit den Digitalen Laboren?
Es wäre super, wenn die Labore im kommenden Jahr eine Weiterführung erfahren würden. Die Abschlussveranstaltung für die aktuelle Laborreihe machen wir mit der Intention, dass dieses digitalszenografische Projekt so etwas wie ein Prototyp für weitere Formate in dieser Richtung sein kann. Unsere Laborergebnisse sollen sichtbar bleiben – und wir versuchen, darauf aufzubauen, indem wir weiterhin an diesen Fragen arbeiten:
- Hat sich für die Teilnehmenden ein Mehrwert ergeben?
- Kann sich der Szenografie-Bund nochmal dazu entscheiden, ein weiteres Projekt dieser Größenordnung zu stemmen?
- Finden wir ein anderes Format?
- Machen wir aus einem Thema, was stark nachgefragt war, eine Serie an Laboren an verschiedenen Orten und halten so die Energie niedriger durch eine Wiederholung (parallel zur „virtuellen Bauprobe“ der DTHG)?
- Werten wir unsere Ergebnisse rückblickend mit einem Laborbericht aus?
Was brennt dir unter den Nägeln? Für was sollten wir uns in im Bereich Theater und Bühnenbild in nächster Zeit starkmachen?
Das Theater ist eine Plattform, die gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen will und dafür Räume zur Verfügung stellt. Und die Bühnenbildner*innen können das gestalten: kommunikative Räume, Rückzugsräume, interaktive Räume, Sporträume, vielleicht neue Stadtteilzentren, kurz: kulturelle Foren.
Es gibt eine tolle Energie zwischen Szenograf*innen, ein großes WIR. Es wäre super, wenn wir damit weitere Brocken ins Rollen brächten. Ich glaube sehr an die Vernetzung auch mit anderen Verbänden.
Auf unsere Labore bezogen ist es essenziell, dass Szenograf*innen sich in Ruhe erstmal für sich mit den dringenden Themen künstlerisch beschäftigen. Auf der anderen Seite ist es genauso wichtig, die Regie und Choreografie sofort mit dazu zu holen. Ein gemeinsames Ausprobieren neuer digitaler Werkzeuge schafft gemeinsame Fantasien. Vielleicht finden sich für den Szenografie-Bund Formate, um schon bestehende Regie- und Bühnenkonzepte bei der Umsetzung zu begleiten. Aber natürlich liegt der Fokus unseres Berufsverbandes auf der szenografischen Seite. In der Praxis lässt sich bei Projekten beobachten, dass sich Zuweisungen der künstlerischen Aufgaben bei digitalen Herangehensweisen verwischen.