Noch ein Gastbeitrag von Sebastian Schrader.
Spiegelnder Selbstglanz.
Vor kurzem beobachtete ich bei einem Video-Call, dass mir, aus einem mir unerfindlichen Grund, meine eigene Video-Kachel nicht gespiegelt angezeigt wurde. Mein eigenes Bild im Screen war ausschließlich in dem Modus zu betrachten, in dem die Kamera mich wirklich sieht. Was zunächst banal klingt, erzeugte in mir während des Calls eine merkliche Irritation. Ich empfand meinen Anblick als äußerst merkwürdig, obwohl mir mein eigenes Bild in der Zeit der permanenten Zoomcalls sehr vertraut geworden ist. Mit dem Suchen nach der Ursache meiner Irritation kam ich zu einem Hinweis darüber, wie dieses Gefühl zustande kam. Grund hierfür ist nämlich der Mere-Exposure Effekt. Dieser besagt, dass wir den Blick in den Spiegel als vertrauter und daher als angenehmer empfinden, als den außenstehenden Blick eines Freundes oder einer Kamera (man denke an ein gemachtes Foto eines Freundes). Gleiches gilt im übrigen auch für den Klang unserer Stimme, wenn wir diese aus einem Lautsprecher hören.
Dieses Phänomen hat sich dabei auf die Entwicklung von Technologien, konkret von Smartphones, oder eben des Video-Call-Programmes ausgewirkt. Smartphones erkennen mittlerweile den Vorgang eines Selfies und speichern automatisch das gemachte Bild gespiegelt ab. Die Grundeinstellung bei der Kamera meines Laptops für einen Video-Call ist deshalb normalerweise „gespiegelt“.
Die Technische Bedingung.
Die vorangestellte Beobachtung ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie sich eine technische Bedingung auf das Wahrnehmen unserer Welt auswirkt. Meist werden wir uns dieser Bedingungen immer dann bewusst, wenn eine Störung vorliegt. Wenn wir keinen Zugriff auf etwas Notwendiges haben (den digitalen Impfpass, weil der Akku des Smartphones leer ist). Wenn eine Situation von dem Gewohnten abweicht, dann merken wir auf. Die Vermutung liegt nahe: In der Zukunft werden diese Bedingungen nicht kleiner, sondern eher größer. Und sie werden auch weiterhin Auswirkungen auf die Räume haben, in denen wir leben und arbeiten.
Unser Blick wird durch das Auftreten von Medien jetzt schon permanent verändert. Sie haben mit dem Fortschreiten der Technologien bereits diverse Wahrnehmungsbereiche verändert. Positivistisch gesprochen erweitert sich mit jeder Entwicklung dabei auch die Wahrnehmung unserer Welt. Aber jede technologische Weiter-Entwicklung bringt auch immer ein Zurücklassen bisher erlernter Fähigkeiten (die Fähigkeit dieses oder jenes zu lesen / zu verstehen) mit sich. Mit dem Erreichen eines vermeintlichen Detailgrades verblassen andere Dinge, werden unkenntlich gemacht, transparenter, oder können mitunter sogar unsichtbar werden. Wenn man also die technische Bedingung auch für unsere Arbeit am Theater anerkennt, dann könnte sich künstlerisches Tun darum handeln, wie mit Hilfe von Medien bestimmte Vorgänge auf der Bühne in Gang gebracht werden können. Diese Vorgänge könnten an dem Prinzip der (Ver-)Störung anknüpfen und uns zum Aufmerken bringen.
Das Sichtbare und Unsichtbare.
Auch das Unsichtbare kann als ein Potenzial gelesen werden, wenn es eine entsprechende Deutung erfährt. Hier tritt Merleau-Ponty[1] an uns heran und erklärt das Unsichtbare zu phänomenologischen Potenzialen. Sie liegen in allen Dingen und können uns zu Erkenntnissen bringen, die, über die individuelle Erfahrung hinaus, auf den Zustand unserer Welt verweisen. Bei Merleau-Ponty meint der Begriff Sehen nicht alleine das Sehen mit den Augen. Es geht um das Sehen, als einen Wirklichkeit schaffenden Akt. Sehen meint das Wahrnehmen der Welt. Dieser Akt geschieht mit dem ganzen Körper und dem Bewusstsein. Mein Blick wird zum Ausgangspunkt für eine übergeordnete Erkenntnis. Erst durch das Verarbeiten meiner Wahrnehmung mit den Sinnen, dem anschließenden Interpretieren und Deuten eines Zusammenhangs geschieht das, was Merleau-Ponty als Erkenntnis bezeichnet.
Sowohl das Sichtbare, als auch das Unsichtbare tragen demnach zu unserem Verständnis bei, die Welt um uns herum zu begreifen. Das Theater ist demnach immer eine Art Wahrnehmungsmaschine. Wir als Zuschauer:innen sind eingeladen, das Geschehen nach Erkenntnissen zu befragen.
Gelenkte Blicke.
Um diese Gedanken auf das Feld der darstellenden Künste zurückzuführen, könnte man die szenografische Arbeit zu einer Suche nach den phänomenologischen Potenzialen innerhalb der darstellenden Künste erklären. Dabei trägt die Wahl eines Mediums also immer Konsequenzen, egal mit welchem Medium/Technologien wir arbeiten. Hierbei denke man an eine Art Lenkung des Blickes mit Hilfe der Technik. Als Gestalter*innen von Szenografie sind wir in der Lage Räume zu entwickeln, in denen Medien ihre Potenziale in einem für das Publikum erfahrbaren Raum entfalten können. Das kann zum Beispiel eine Spielanordnung sein, in denen Zuschauer*innen aktiv mitspielen.
So haben wir im Labor #2 mit Chris Ziegler eine Versuchsanordnung ausprobiert, bei der mit Hilfe von Object-Tracking ein Klangteppich erzeugt wird und jedes hinzugefügte Objekt eine neue Komponente bildete.
Ein gestalterischer Ansatz kann auch sein, bestimmte Dinge auszuschließen (um sich ihnen deshalb um so bewusster zu werden). Als Expert:innen im Lenken des Blickes auf der Bühne, ist es nach wie vor unsere Aufgabe zu entscheiden, welche Dinge besonders kenntlich gemacht werden, wann etwas transparent erscheint, wann etwas zu welchem Zeitpunkt verschwinden oder erscheinen soll, oder ob etwas unsichtbar verbleibt und gerade dadurch eine besondere Wirksamkeit auf das Publikum erfährt.
Digitale Labore.
Die Antwort auf die Frage nach einem Next Step in den darstellenden Künsten ist daher weniger die Suche nach einem konkreten Mittel, um mit Hightechfirmen und ihren Produktpräsentationen mithalten zu können. Viel mehr könnte die Antwort in der bewussten Wahl eines Mittels für etwas liegen und im Probieren, wie diese Mittel in Theaterräumen wirklichkeitsschaffend wirken können. Das schließt nach meinem Empfinden dringend den Vorgang des Experimentierens ein und gestaltet sich als eine künstlerische Forschung. Dabei kann es ungemein bereichernd sein, sich in der Gruppe auszutauschen und seine Erkenntnisse mit anderen Künstler:innen zu teilen. Außerdem muss es mehr Räume geben, in denen man sich verschiedenen Technologien widmen kann. Ein Zugang, in dem Medien bereitgestellt und erprobt werden. Es braucht also dingend mehr digitale Labore, in denen wir lernen, wie Dinge (un-)sichtbar gemacht werden können.
Weshalb ich es bei meinem letztem Call einfach nicht hinbekam meine Video-Kachel zu spiegeln und mich meines merkwürdigen Anblickes zu befreien, habe ich übrigens nicht herausgefunden. Ich habe einfach ein Post-it auf mein Konterfei im Screen geklebt.
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[1] Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) war als Philosoph ein prägender Vertreter der Phänomenologie. Stark herunter gebrochen, begründet sich sich bei ihm Wahrnehmung der Welt auf unsere Sinne und das Verhältnis des eigenen Körpers zur Welt.
Sebastian Schrader, November 2022
Mehr von Sebastian Schrader? Hier geht es zu Auszügen aus der Diplomarbeit des Bühnenbildners auf unserer Mediathek: DIGITALE ENTWURFSTECHNIKEN UND DIGITALE LABORE