„Auf dem Weg in ein szenografisches Zeitalter“

Szene aus „Verrat der Bilder“, Nico and the Navigators, Dessau 2019
Szene aus „Verrat der Bilder“, Nico and the Navigators, Dessau 2019

AR-Technologien in den darstellenden Künsten als Herausforderung und Chance

Oliver Proske (Nico and the Navigators) im Gespräch mit Theaterwissenschaftlerin Birgit Wiens

Bei seinen Bühnenentwürfen für das freie Ensemble Nico and the Navigators, das er 1998 in Dessau mitbegründete, arbeitet Oliver Proske seit vielen Jahren mit Video und digitalen Medien. Einen Schritt ins Unbekannte bedeutete dennoch die Produktion „Verrat der Bilder“ (2019, im Rahmen von Bauhaus100), die experimentell erstmals Augmented Reality-Brillen der Firma Magic Leap im Theaterkontext einsetzte. Mithilfe der damals erprobten AR-Technologie entwickelt Oliver Proske (mit Löhn Digital/Moritz Kiefer) aktuell die „AR-Loopmachine“, die auch in Labor #5 im Mittelpunkt steht.

„Du musst Dein Leben rendern!“, Probenszene. Präsentationsvideo
„Du musst Dein Leben rendern!“, Probenszene. Präsentationsvideo

Das Gestaltungsdenken der historischen Bauhausbühne sah ein basales künstlerisches Erforschen der „einzelnen Probleme des Raumes, des Körpers, der Bewegung, der Form, des Lichts, der Farbe, des Tones“ vor, unter Berücksichtigung der technischen Entwicklungen jener Zeit.1 In gewisser Anlehnung daran verfolgst Du mit Euren Produktionen immer wieder den Anspruch, „mit digitalen Medien systematisch zu forschen“. Was genau meint das, und wie gehst Du vor?

Ich habe ja Industrie-Design und nicht Bühnenbild studiert, und obwohl ich seit mehr als zwanzig Jahren Theater mache, bin ich von meiner Ausbildung in gewisser Weise immer noch geprägt. Oft ergeben sich aus dieser Reibung aber unerwartete Perspektiven. Ich schätze sehr, dass ich in der freien Szene mithilfe von Förderungen Ideen ausprobieren kann, zugleich arbeiten und gastieren wir mit der Kompagnie lange schon an großen Theater- und Opernhäusern; wir bewegen uns somit zwischen den Strukturen. Meine ersten szenografischen Arbeiten waren abstrakte, großdimensionierte Objekte, die ich auch z.B. aus recyceltem Material aus Airbus-Flugzeug-Böden gestaltet habe. Wenn irgend möglich, hebe ich Objekte auf und lasse sie – anders als konventionelle Bühnenbilder – in mehreren Stücken auftreten. Vor einigen Jahre habe ich begonnen, mit Live-Video zu arbeiten. Wir setzen mobile, intelligente Kameras ein, mit denen man Positionen bzw. Positionswechsel programmieren kann. So kann man mit Cues arbeiten, so dass Live-Performance und Live-Filmproduktion auf der Bühne sichtbar ineinandergreifen, wie z.B. bei unserem getanztem Schubert-Abend „SILENT SONGS into the wild“. Wichtig ist mir bei allen unseren Experimenten mit digitalen Medien, dass ein wesentlicher Bestandteil dieser Szenografien die Software ist, die jeweils neu programmiert oder modifiziert wird. Meine These ist, dass die Software-Programmierung – als Teil der Inszenierungsarbeit – zu unserer Theaterkunst gehört und auch so verstanden werden sollte. Das gilt auch für unsere Experimente mit AR-Technologien.

Inwiefern steht der Stellenwert einer von Szenograf*innen geschriebenen Software als Kunst in Zweifel, und welche Probleme und Überlegungen ergeben sich daraus?

Der Stellenwert der Software als Kunst ist in der Praxis oft strittig. Beispielsweise habe ich an einem Opernhaus erlebt, dass man dort nicht bereit war, mit unserem System zu arbeiten und alles in einem anderen System nachprogrammiert hat. Damit unser Stück zustande kommt, musste ich alle meine Formeln, quasi als Open Source, herausgeben – und das Haus konnte sich damit ein System bauen, das künftig bei anderen Produktionen eingesetzt werden kann. Da sehe ich ernste Probleme und offene Fragen, auch im Hinblick auf Urheberrecht und Autorenschaft. Wenn wir über Theater, Digitalität und Szenografie reden, wird man, denke ich, einiges neu und anders als bisher verabreden müssen. 

Nico and the Navigators: “SILENT SONGS into the Wild”, Staatstheater Braunschweig, 2017
Nico and the Navigators: “SILENT SONGS into the Wild”, Staatstheater Braunschweig, 2017

Die Idee, ein ‚digitales Bühnenbild‘ zu bauen, das sich – raumdramaturgisch ausgeklügelt – in virtuellen Bildern über eine reale, materielle Umgebung legt, habt Ihr 2019 mit dem Augmented Reality-Projekt „Verrat der Bilder“ realisiert. 

Den Anlass gab das 100jährige Bauhaus-Jubiläum, in Erinnerung an Gropius‘ Maxime „Kunst und Technik – eine neue Einheit!“. In Auseinandersetzung mit einer heute innovativen Technologie wollten wir diese Losung neu deuten. AR ist für mich spannender als VR-Technologie, weil sie Möglichkeiten eröffnet, materielle Welt und Virtualität in unserem Blick, in unserer Wahrnehmung zu überlagern. Für das Projekt in Dessau haben wir mit AR-Brillen der US-amerikanischen Firma Magic Leap gearbeitet. In die Firma wurde enorm viel Risiko-Kapital investiert, doch als die „Magic Leap One“ 2017 herauskam, wurden die selbst geweckten, hohen Erwartungen nicht erfüllt. Jetzt wird an weiteren Modellen gearbeitet. Uns interessieren auch solche Fragen: Wer steht hinter einer Entwicklung, welche Ziele werden verfolgt und was sind die öffentlich vermittelten Narrative dazu? 

Oliver Proske mit einer VR-Brille von Magic Leap
Oliver Proske mit einer VR-Brille von Magic Leap, Präsentationsvideo „Labore für Digitale Szenografie“, #Labor 5: VR-Loopmachine

Auf lange Sicht will man das Smartphone und vergleichbare Technologien durch AR-Brillen ersetzen, auch im Alltag – so das Geschäftsmodell. Das alles kann man auch sehr kritisch sehen…

Ja, man sollte sich – und sein Publikum – gut darüber informieren und auch immer abwägen. Hier haben wir uns für unsere künstlerischen Zwecke erst einmal den Misserfolg der „Magic Leap One“ zunutze gemacht. Anfangs hatten wir 26 AR-Brillen angeschafft und – als sie immer billiger wurden – noch weitere, mittlerweile haben wir 60 Stück. Zu jeder Brille gehört jeweils ein Taschencomputer mit Prozessor und eine Grafikkarte. 30 bis 40 Stück können synchron gesteuert werden. Nach unserem Kenntnisstand sind wir derzeit die Einzigen, die – abgesehen vom US-Militär – in einem Raum mit dieser hohen Anzahl von AR-Brillen parallel arbeiten. Für friedliche Zwecke, versteht sich.

Das Interessante an der Brille ist, dass man wie durch eine Klarsicht- bzw. Sonnenbrille hindurchsehen kann und zudem können Inhalte eingespielt werden: In Dessau bei „Verrat der Bilder“ sah man an Schlemmer-Figurinen erinnernde, virtuelle Körperbilder, die geisterhaft zwischen den realen Performer*innen erschienen. Virtuelle Rekonstruktionen von Bauhausmöbeln traten plötzlich wie aus einem verborgenen Bildgedächtnis hervor und verschwanden wieder. Oder aber man sah eingeblendete Texte und am Ende Porträtbilder von Bauhauskünstler*innen, mit nach 1933 ganz unterschiedlichen Schicksalen und Lebenswegen. Die Aufführung fand als Parcours im historischen Meisterhaus Muche-Schlemmer statt, später in anderer Version in Berliner Georg Kolbe-Museum. Sie hatte auch etwas von einer Zeitreise. Dass AR-Brillen heute auch im Ausstellungskontext eingesetzt werden, erscheint naheliegend.

Der Einsatz ist dort, ohne Integration in eine Live-Performance, auch einfacher. Dennoch – oder eben deshalb – hat es uns als Theaterleute gereizt, damit zu arbeiten. Herausfordernd für die Akteur*innen auf der Bühne war, dass sie mit Objekten spielten, die sie gar nicht sehen konnten, weil sie selbst keine Brillen trugen. Und damit das Publikum synchron die gleichen Inhalte sah, mussten wir die Software aufwändig kalibrieren. Das Betriebssystem war 2019 noch nicht sehr entwickelt und die Brille ist – bis heute spürbar – in der Pilotphase. Zudem hatte unser Navigators-Team einen hohen Betreuungsaufwand mit unserem Publikum, das altersmäßig stark gemischt ist; viele hatten eine solche High-Tech-Brille erstmals auf. Den Publikumsreaktionen und Rezensionen zufolge hat es sich aber gelohnt. Dass das Sichtfeld dieser Brille nicht sehr breit ist, was in der Tech-Szene viel Kritik hervorrief, stört uns in der Kunst gerade nicht. Besser, wenn da immer auch Irritationen bleiben.

Einen nächsten Schritt im künstlerischen Umgang mit dieser Technologie geht Ihr mit dem Projekt „Du musst Dein Leben rendern!“ und mit der von Dir konzipierten und von Moritz Kiefer/Löhn Digital programmierten Software „AR-Loopmachine“. Was ist der Ansatz?

In AR-Tanzperformances arbeiten wir mit Avataren, die wir animiert haben – mit den Bewegungen eines Tänzers und einer Tänzerin, mithilfe von Datenanzügen. Auf der Bühne tanzen die beiden mit ihren Avataren, die wir über die „Loopmachine“ – ähnlich wie musikalische Loops und Sound-Samples, aber visuell – bearbeiten und in verschiedenster Form, Größe und Anzahl erscheinen lassen können. Synchronisiert wird die Choreographie, eher klassisch, über Live-Musik – denn auch hier können die Tänzer*innen diese ‚Geister‘, die quasi digitale Doppelgänger*innen sind, selbst nicht sehen. Das Publikum hingegen sieht durch die AR-Brille beides. Anders als beim Vorläuferprojekt sind die Inhalte diesmal nicht Bestandteil der Software und liegen auf einem externen Server. Dadurch lassen sich auch Projekte mit ganz anderen Inhalten erzeugen. Aus einer von uns entwickelten offenen Plattform (https://ml.navigators.de) werden die 3D-Daten auf die Brillen hochgeladen. Das Publikum, das sich frei bewegen und selbst dazu positionieren kann, sieht bei uns ein inszeniertes, spannungsreiches Spiel zwischen An- und Abwesenheit. Das erinnert, auf der Deutungsebene, an schon sehr alte Konflikte zwischen dem Menschen und menschgemachten Kunstwesen, an den Pygmalion-Mythos oder alte Apparate wie die Laterna Magica.

Dass in der Realität etwas erscheint, was dort gar nicht wirklich existiert, übt seit Menschengedenken eine große Faszination auf uns aus. Phänomene wie die als Fata Morgana bekannte Luftspiegelung inspirierten Magier und Illusionisten. Dass die Traumfabriken der Filmindustrie ihr Repertoire um fotorealistische Animationen imaginärer Wesen oder um futuristische Instrumente wie Holodecks und Teleportations-Stationen erweitern, belegt die ungebrochene Popularität dieser Illusionen.

Heutige ‚Magier‘ wären demnach internationale High Tech-Konzerne. Das kann durchaus auch Unbehagen auslösen – denkt man etwa an die Eye Tracking-Technologie, die in Magic Leap-Brillen integriert ist. Oder blickt man generell auf die Hypes, Enttäuschungen und die Mischung aus Neugier, Skepsis, spielerischer Faszination und kommerziellen Interessen, die solche Entwicklungen auslösen – nicht nur in der Tech-Szene und bei potenziellen Anwender*innen, sondern allgemein in heute zunehmend mediatisierten Gesellschaften.

Ich denke, es ist eine der ureigensten Aufgaben von Kunst, sich mit neuen Technologien und neuen Möglichkeiten zu befassen und sie, auch in ästhetischer und sozialer Dimension, zu befragen. Das gilt aktuell mehr denn je, daher meine These, dass wir uns eventuell auf ein „szenografisches Zeitalter“ zubewegen. Zuerst bedeutet dieser Ansatz, dass wir Technologien – auch solche, die wir kritisch sehen – nicht komplett verneinen, sondern erst einmal ausprobieren: Was ist damit möglich? Die Magic Leap-Brillen, die unsere Kompagnie mit öffentlichen Geldern anschaffen konnte, wollen wir daher auch anderen Künstler*innen zur Verfügung stellen – derzeit z.B. im Rahmen von Artistic Residencies im Berliner Dock11 oder auf Anfrage.

© alle Fotos: Oliver Proske/Nico and the Navigators

Oliver Proske ist Szenograf; der studierte Industrie-Designer (HFBK Hamburg, UdK Berlin) gründete 1998 mit Nicola Hümpel am Bauhaus Dessau die freie Theaterkompagnie Nico and the Navigators; Projekte entstanden 1999-2006 v.a. an den Berliner Sophiensaelen. Seither präsentiert das Ensemble – mit Fokus auf Musiktheater und Tanz – seine für ihre bildstarke Sprache bekannten Produktionen in Deutschland und international auf Festivals sowie renommierten Theater- und Opernbühnen. Oliver Proske entwarf bisher rund 45 Bühnenbilder und übernahm bei 350 Gastspielen die technische Leitung, zudem ist er Geschäftsführer. Gelegentlich Tätigkeit als Designer; eine seiner Leuchten wird seit 2019 im neuen Bauhaumuseum Dessau gezeigt. Beim Bund der Szenografen e.V. war er bis 2022 Vorstandsmitglied und 2020 Initiator der AG „Digitaler Raum“.

Literatur:

1 Aus Walter Gropius‘ Programmschrift „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses“ (1923), zit. nach U.Ackermann/W.Holler (Hg.): Bauhaus Museum Weimar. 100 Jahre Bauhaus. München: Hirmer 2019, 77.